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14
August
2020

Corona-Infektionsverläufe simulieren, Gegenmaßnahmen bewerten

Erstmals werden geografisch, zeitlich und demografisch hochaufgelöste Simulationen möglich. Die Software beinhaltet ein Online-Simulationstool, das leicht und intuitiv bedienbar sein soll

Monate nach Ausbruch von Covid-19 stellt die Pandemie die Welt vor große Probleme. Da keine medizinische Lösung in unmittelbarer Aussicht erscheint, sind weiterhin nicht-pharmazeutische, politische Eindämmungsmaßnahmen die einzig zur Verfügung stehende Option, um die Ausbreitung des Virus zu begrenzen. Im März 2020 wurden in Europa umfassende Maßnahmen getroffen. Obwohl sie gute Erfolge bei der Bekämpfung der Virusausbreitung zeigten, können sie aufgrund ihrer umfangreichen Belastungen für Gesellschaft und Wirtschaft nicht wieder und wieder ergriffen werden, sollten neue Ausbreitungswellen zu verhindern sein.

Informatik und Mathematik unterstützen Kampf gegen Corona. Credit: lucadp – stock.adobe.com
Informatik und Mathematik unterstützen Kampf gegen Corona. Credit: lucadp – stock.adobe.com

Während Pandemien ist das Urteil von Fachleuten aus Medizin, Epidemiologie, Virologie oder Biologie besonders gefragt. Einen wichtigen Beitrag können allerdings auch Expertinnen und Experten aus den Bereichen Mathematik und Informatik mit Erfahrungen in numerischer Simulation leisten. Das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) und das Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) entwickeln zurzeit gemeinsam ein Softwarepaket, das ein Online-Simulationstool beinhalten wird, mit dem sich der Einfluss von Schutzmaßnahmen wie Kontaktverbote und Schulschließungen auf die Entwicklung der Corona-Infektionszahlen über mehrere Monate simulieren lässt. Die Entwicklung des Tools wird durch Mittel des DLR gefördert.

Credit: DLR (CC-BY 3.0)
Screenshot der Nutzungsoberfläche (simplifiziertes Szenario). Credit: DLR (CC-BY 3.0)

Hochkomplexe Modelle zur Simulation des Verbreitungsverlaufs einer Infektionskrankheit können nicht mehr händisch oder auf dem einfachen Laptop berechnet werden. Solch rechenintensive Operationen werden erst durch Hochleistungsrechner beziehungsweise High-Performance-Computing möglich, kurz HPC. Zusammen mit der Abteilung System-Immunologie am HZI arbeitet ein Team des DLR-Instituts für Softwaretechnologie an räumlich und demografisch hochaufgelösten Modellierungen zum Infektionsverlauf. "So komplex das Tool auch wird, so leicht und intuitiv soll es bedienbar sein", sagt HPC-Experte Dr. Martin Kühn vom DLR in Köln. "Vom interessierten Laien bis zu politischen Entscheiderinnen und Entscheidern soll der Online-Simulator den Menschen helfen, die Entwicklung der Pandemie besser zu verstehen und die Gegenmaßnahmen zu bewerten."

Ein Tool für Politik und die Bürgerinnen und Bürger

Derzeit bekannte epidemiologische Simulationstools lassen sich in zwei Kategorien einteilen: Die einen richten sich an Wissenschaftler und Expertinnen aus dem Gesundheitssystem. Ihre Nutzung setzt entsprechend fundiertes Grundwissen voraus. Wer in Politik oder Medizinbetrieb schnell eine Entscheidung treffen muss, kann allerdings nicht erst eine umfangreiche Recherche betreiben, um etwa Dämpfungsparameter wie Kontaktverbote oder Ausgangssperren zu erhalten. Andere Tools sind eher für die Nutzung in der Lehre konzipiert oder haben rein pädagogischen Nutzen. Sie sind häufig vereinfacht oder es fehlen Einstellmöglichkeiten. Sie können nicht Grundlage für politische Entscheidungen werden.

Das vom DLR zusammen mit dem HZI entwickelte Online-Tool wird auf fundierten mathematischen Modellen mit aktuellen Daten basieren, gleichzeitig aber ein verständliches Interface für Benutzer ohne Expertenwissen bieten.
Mathematische Modellierung von Infektionsketten

Basis der Simulationen von Krankheitsverläufen wie der aktuellen Corona-Pandemie können sowohl sogenannte differentialgleichungsbasierte als auch agentenbasierte Modelle sein. Beide Ansätze werden in epidemiologischen Modellen am HZI verfolgt und im Rahmen der Kooperation erweitert. In beiden Modellen werden Zustände definiert, die einzelne Personen oder Menschengruppen vor, während oder nach der Infektion mit einer Krankheit durchlaufen. Hierbei können "Infiziert", "Trägerstatus", "Hospitalisierung", "Gesund" oder auch "Immun" Zustände sein, die vom jeweiligen Modell implementiert werden. Neben einer möglichst altersgerechten Parameterschätzung, die auf großen Datenmengen basieren wird, ist eine räumliche Auflösung sinnvoll und wichtig.

Die Forschenden von DLR und HZI erweitern die Modelle auf geografische Heterogenität. So lassen sich die Variablen für jede Stadt oder Region mathematisch beschreiben und um eine Matrix erweitern, die die "Mobilität" zwischen diesen geografischen Regionen berücksichtigt. Dabei kann die Mobilität – beispielsweise die Reise zwischen zwei Städten – zeitabhängig modelliert werden. Es lassen sich die Effekte von Quarantänen oder Kontaktverboten auf die Infektionszahlen simulieren und auch die erhöhte "Mobilität" durch Ereignisse wie den Karneval modellieren. Mit dieser Methode können die Entwicklungen einzelner Städte oder Landkreise gezielt simuliert werden. Mögliche Auswirkungen lokaler "Superspreading-Events" sollen so möglichst frühzeitig erkannt und ein Ausbreiten der Krankheit – über das lokale Aufflammen hinweg – rechtzeitig verhindert werden. "In der Zusammenarbeit mit dem DLR können wir die Auflösung unserer Modelle in Bezug auf die räumliche Verteilung und Detailtiefe der Infektionskette auf eine neue Ebene bringen", sagt Dr. Sebastian Binder vom HZI. "Darin liegt eine echte Chance für zuverlässigere Prognosen, insbesondere in einer Situation mit vorrangig lokalen Ausbrüchen."

Maschinelles Lernen und High-Performance-Computing – große Datenmengen analysieren, eine Vielzahl komplexer Fragestellungen beantworten

Die Auflösung der in Deutschland gesammelten Daten kann bis auf Stadt- und Landkreisebene erfolgen. Auch demografische Daten fließen ein. So erfasst das Robert-Koch-Institut beispielsweise sechs und mehr Altersklassen. Eine detaillierte Erfassung von Risikogruppen und die Integration spezieller Ereignisse – etwa "Superspreading-Events" wie Partys – potenzieren die Komplexität zusätzlich. Eine sinnvolle Analyse kann zudem nur erfolgen, wenn gleich der Verlauf über mehrere Monate simuliert wird. Eine Auflösung der Zeit muss mindestens auf Tagesebene und unter Berücksichtigung der Interkonnektivität der Orte erfolgen, also das Mobilitätsverhalten der Menschen über Stadtgrenzen hinaus.

Die Abteilung High Performance Computing (HPC) am DLR-Institut für Softwaretechnologie verfügt über Fachexpertise im Umgang mit großen Datenmengen, wie sie bei der Simulation derart komplexer Modellsysteme entstehen. Präzise Vorhersagen für die Ausbreitung von Infektionskrankheiten sind nur zu erreichen, wenn viel Wissen in Form von großen Datensätzen in die Modelle integriert wird. Möglich wird dies durch HPC-Ressourcen – die Hardware – sowie die Erfahrungen der Fachleute in der effizienten Nutzung von Großrechnern. Die aus den Simulationen gewonnen Daten können anschließend verwendet werden, um Machine-Learning-Modelle zu trainieren. Diese unterstützen die Nutzer wiederum darin, hilfreiche Vorhersagen für die Zukunft abzuleiten.

Das HZI verfügt über langjährige Erfahrungen in der Modellierung von Infektionskrankheiten und Immunreaktionen mit Differenzialgleichungen, insbesondere mit agentenbasierter Modellierung. Neben der Entwicklung der mathematischen Beschreibung und darauf basierenden Simulationen ist auch die Kalibrierung der Modelle eine zentrale Aufgabe und Kernkompetenz der Abteilung. Durch die Kooperation ergänzen DLR und HZI ihre Fähigkeiten, um eine neue Ebene der Analyse und Vorhersage von Infektionsgeschehen zu erreichen.

Auf der Website des DLR-Instituts für Softwaretechnologie finden sich weitere und stets aktualisierte Informationen zum Forschungsprojekt "HPC against Corona"

 

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