Was Digitale Zwillinge können – und was nicht!
Text: Monika Rech-Heider im Auftrag für INTERGEO® 2022
Jantien Stoter, Professorin für 3D-Geoinformation an der Technischen Universität Delft, plädiert für einen realistischen Umgang mit dem Konzept der Digitalen Zwillinge. Sie seien nicht die große Wundertüte, die die Lösung aller Probleme unserer Zukunft bereithalten. Aber richtig verstanden böten die 'Digitalen Mehrlinge' reichlich Potenziale. Die Geo-Community sollte dabei die die verbleibenden Herausforderungen nicht außer Acht lassen.
Es war nicht die Liebe auf den ersten Blick, die Jantien Stoter überkam, als sie vor rund zehn Jahren das erste Mal mit dem Konzept des Digitalen Zwillings in Berührung kam. Für sie war das Konzept unscharf, versprach himmelhohe Ambitionen und deckte gleichzeitig Themen ab, die im Bereich der Geoinformationen seit Jahrzehnten untersucht werden. Heute aber, sagt sie, sehe sie durchaus den Wert. Denn richtig verstanden liege ein großes Potenzial in Digitalen Zwillingen.
Der Professorin für 3D-Geoinformationen, Leiterin der Abteilung “Urban Data Science“ an der niederländischen TU Delft, war das Konzept zu vage, zu ambitioniert, zu aufschneiderisch. Während die Wogen um den neuen Star in der Geoinformationswelt hoch schlugen, blieb Jantien Stoter auf dem Boden der Tatsachen.
Warum die Skepsis? Stoters wichtigster Punkt ist, dass Modelle immer Abstraktionen in einem bestimmten Maßstab und zu einer bestimmten Zeit sind, dass also Simulationen auf Basis von Modellen nicht mit Prophezeiungen über unsere Zukunft verwechselt werden dürfen. Digitale Zwillinge als große schwarze Box, in die allerhand eindeutige und uniforme Daten einfließen und von allen verwendet werden können, gebe es einfach nicht. Daher sei der Begriff Digitaler Zwilling auch ein wenig irreführend.
Das große einheitliche digitale Modell für jeden Moment der Realität werde es voraussichtlich nicht geben. Vielmehr plädiert Jantien Stoter für die Idee der „Digitalen Mehrlinge“. Für jede Anwendung und Aufgabe gäbe es angepasste „Zwillinge“, die im besten Fall synchronisiert und angeglichen werde.
Digitale Zwillinge sind und bleiben Abstraktionen
Ein weiterer Kritikpunkt des Konzepts ist in Stoters Augen, dass es verschleiere, was in Sachen 3D-Modellierungen bereits geschafft wurde. „Wir arbeiten seit langem mit digitalen Repräsentanzen unserer Umwelt und integrieren auch dynamische Informationen etwa durch Sensordaten“, so die Professorin. Das Beispiel GIS und BIM mag verdeutlichen, was Stoter meint. Nach langen intensiven Diskussionen und Studien zum Thema sei man sich heute klar, dass GIS und BIM den jeweils anderen Blick auf die Realität behalten sollen. Es sind zwei unterschiedliche Modelle. Will man Daten aus dem GIS im BIM nutzen oder umgekehrt, muss man um die Unterschiedlichkeit wissen, um sie sinnvoll zusammenzuführen. Kämen dann noch der Faktor Zeit und „Was-wäre-Wenn-Szenarien“ dazu, müsse klar sein, dass es sich um Abstraktionen handele, die abhängig von der Anzahl und Art der zugrundeliegenden Variablen, der Genauigkeit des Inputs und der verwendeten mathematischen Modelle, zu unterschiedlichen Ergebnissen komme. Simulationen etwa zu Geräusch- oder Wind- oder Umweltbelastungen seien so komplex, dass sie spezielle Hardware brauchen, um zu brauchbaren Ergebnissen zu kommen und Experten, um sie zu interpretieren.
Digitaler Zwilling schafft offene Türen
Trotz aller Kritik steht Professorin Stoter heute voll hinter dem Konzept. Es erleichtert ihr die Kommunikation, denn während sie früher Schwierigkeiten hatte, die Bedeutung von 3D-Stadtmodellen, Geodaten und Standardisierung zu erklären, laufe sie heute offene Türen ein. „Wir als Geo-Community sollten das Konzept begrüßen, aber nicht die verbleibenden Herausforderungen außer Acht lassen“, so Stoter. Dazu zählt sie unter anderem das Thema Standardisierung von Daten und Prozessen und die Fähigkeit, von kleinen Piloten in die Fläche zu gehen. Dazu sei notwendig, dass der Digitale Zwilling aus der rein technischen Ebene rauskomme. Der Digitale Zwilling müsse von Organisationen als Basis begriffen werden, auf der Prozesse ablaufen. Daher müssen Übereinkommen getroffen werden – auch in Public-Private-Partnerships – wie Daten ausgetauscht werden, wer für die verantwortlich ist, wer sie nachführt. „Daten sind wie andere Vermögenswerte auch, beispielsweise wie eine Straße, über die man ja auch wisse, woher sie komme, wo sie hinführen soll, aus welchem Material sie besteht und wer Bau und Betrieb bezahlt“, so Stoter.
Digitaler Zwilling für Lärmgutachten und Baugenehmigungen
Als Beispiel für eine Anwendung zum digitalen Zwilling nennt Jantien Stoter das gemeinsame Projekt mit dem 'National Institute for Public Health and the Environment' der Niederlande, in dessen Aufgabengebiet Methoden für Lärmgutachten liegen. In der Forschungsgruppe 3D-Geoinformation sind die großräumige zweidimensionale topographische Karte der Niederlande mit der dritten Dimension aus LIDAR-Erhebungen zu einem 3D-Lärm-Modell zusammengeführt worden. Es steht heute als Open Data-Set beim Niederländischen Kataster zur Verfügung und wird von Lärmsimulationssoftware verwendet, die die Methode des National Health Service unterstützt.
Ein anderes Beispiel ist der Prozess der digitalen Baugenehmigung. Die Erteilung von Baugenehmigungen ist heute hauptsächlich ein manueller, Dokumenten gestützter Prozess, der durch geringe Genauigkeit, geringe Transparenz und geringe Effizienz gekennzeichnet ist. Dies führt zu Verzögerungen und Fehlern bei Planung, Entwurf und Bau. Die Forschungsgruppe 3D-Geoinformation hat mehrere Projekte zur Digitalisierung der Baugenehmigungsprüfung durch die Integration von BIM und Geo durchgeführt. Darüber hinaus werden 19 Partner aus ganz Europa im Rahmen eines kürzlich bewilligten 'Horizon Europe-Projekts' ein innovatives Paket von methodischen und technischen Werkzeugen entwickeln, um die Baugenehmigung zu digitalisieren und die Einhaltung der Vorschriften automatisch zu überprüfen. Das Konsortium besteht aus einem multidisziplinären Team, das GIS, BIM, kommunale Prozesse und Planung, Datenintegration und Standardisierung (OGC und buildingSMART) abdeckt. Mitarbeitende in den Behörden können so schneller und transparenter Auskünfte und Baugenehmigungen erteilen. „Der digitale Check der Baugenehmigung bietet weniger Spielraum für Missverständnisse, braucht aber wie bei allen anderen Digitalen Zwillingen Expert:innen und Kommunikation zwischen allen Beteiligten, um Ergebnisse abzuwägen und die optimalen Entscheidungen zu treffen.
Auch wenn es nicht die Liebe auf den ersten Blick war, heute weiß Jantien Stoter um den Wert von Digitalen Zwillingen. Richtig verstanden, also mit weniger Ambitionen und einem Bewusstsein, dass die Ergebnisse allen dienen können, seien sie äußerst hilfreich. Zum Glück hat die Professorin die Digitalen Zwillinge doch noch angenommen und sich in die „Digitalen Mehrlinge“ verliebt.
Weitere Informationen: www.intergeo.de
Text: Monika Rech-Heider im Auftrag für INTERGEO® 2022, Redaktion INTERGEO Newsroom Copyright: INTERGEO®
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